Ralph Weber, die kommunistische Partei China geht unter anderem in Ostturkestan (chinesisch Xinjiang) gewaltsam und systematisch gegen Minderheiten vor. Was ist das Ziel dieser Unterdrückung?
Bei allem, was die kommunistische Partei tut, steht letztlich ihr Machterhalt im Vordergrund. In Xinjiang geht es ihr um die territoriale Integrität, den Zugang zu Ressourcen und die Sicherung der Provinz als Transitkorridor. Wie überall in der Volksrepublik China sollen die Menschen zudem auf Linie gebracht werden. Angesichts der ethnischen, kulturellen und religiösen Differenz geht man in Xinjiang seit Jahren äusserst drastisch vor. Es gibt derweilen Hinweise darauf, dass man dort auch Systeme der Überwachung und Repression testet, die dann anderswo eingesetzt werden sollen.
Im Gegensatz zur EU, weiteren europäischen Ländern und den USA hält sich die Schweiz zurückhaltend mit Reaktionen. Warum?
China kann sich als Grossmacht vieles erlauben und hat mit dem wirtschaftlichen Aufstieg zunehmend eine Sonderbehandlung erhalten. Da gibt es zahlreiche Abhängigkeiten, das Versprechen des riesigen chinesischen Marktes und die Vision einer globalen Wirtschaftszukunft, die für viele ohne die Volksrepublik China nicht denkbar ist. Man fürchtet aber auch schlicht die Konsequenzen. In der neuen China-Strategie betont der Bundesrat die Eigenständigkeit. Doch ist das eine eigenständige Politik, wenn man von der Prämisse ausgeht, den chinesischen Parteistaat keinesfalls allzu fest verärgern zu dürfen?
In manchen Diskussionen wird die verfassungsgemässe Neutralität als Argument gegen Konsequenzen vorgebracht.
Neutralität wird in diesen Diskussionen als ein Ziel an sich romantisiert. Doch das moderne Neutralitätsverständnis, das auch Bundesbern anwendet, ist kein Ziel an sich, sondern ein Instrument, um andere Ziele zu verfolgen. Die Schweizer Neutralität steht der Ahndung von Menschenrechtsverletzungen nicht im Weg.
Wäre eine klare Positionierung gegen die Menschenrechtssituation in China eine zu grosse Gefährdung für die Wirtschaftsinteressen der Schweiz?
Das ist eine Frage, die letztlich die Schweizer Bevölkerung beantworten muss. Wenn wir das Verhältnis zur Volksrepublik China neu ordnen möchten, kommt das sicherlich mit Kosten daher. Es ist aber lapidar, diese Diskussion als «Menschenrechte versus Wirtschaftsinteressen» zu rahmen. Sind denn Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Transparenz langfristig nicht vielleicht wirtschaftsförderlich? Unternehmen sind in China ja übrigens nicht freie Marktakteure, sondern unterliegen – sogar zunehmend – der Kontrolle und Führung durch die Partei.
Wie sähe denn der richtige Umgang mit China aus?
Wir müssen die Kanäle mit China offenhalten, aber unsere Werte und die liberale Weltordnung mit einem funktionierenden Multilateralismus einfordern und Kooperationen auch beenden, wenn die Bedingungen nicht mehr stimmen. Das muss konsequent, aber Schritt für Schritt passieren, schliesslich hat niemand Interesse an einer Eskalation.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Zunächst müssen wir die kommunistische Partei China als zentralen Akteur besser kennen. Und dann sollten wir zu einer Kooperation zurückkehren, die auf Wechselseitigkeit beruht und an klare Bedingungen geknüpft ist. Das kann nur klappen, wenn man Abhängigkeiten reduziert, kluge Allianzen eingeht und in internationalen Gremien dezidiert auf Menschenrechte besteht.
Stichwort China-Kompetenz: Besitzt die Schweizer Regierung die notwendige Expertise über das politische und wirtschaftliche System Chinas?
Vergleicht man die wirtschaftliche und politische Bedeutung der Volksrepublik China für die Schweiz mit der Chinakompetenz des Bundes, so ist diese eher bescheiden. Es sind zwar gute Leute, die sich mit der Thematik befassen, aber meines Erachtens zu wenige.
Was denkt die Han-chinesische Bevölkerung über die Situation im eigenen Land?
Es ist kaum möglich zu eruieren, was die Bevölkerung in einer nicht-freiheitlichen Gesellschaft wirklich denkt. Die Han-chinesische Bevölkerung ist pluralistisch und umfasst Regimegegner wie -befürworter, aber auch Menschen, die sich arrangieren und ihr Leben nur einfach leben wollen, und wiederum andere, die sich immer wieder kreative Freiräume schaffen. Aber diese möglichen Freiräume sind immer kleiner geworden.