Menschen & Geschichten

«Die Menschen sind froh, wenn sie morgens noch atmen»

Sayragul Sauytbay

Geflohene aus einem chinesischen Zwangslager

Die ethnische Kasachin Sayragul Sauytbay war Gefangene in einem Zwangslager in Ostturkestan (chinesisch Xinjiang). Dort wurde sie Opfer und Zeugin von Grausamkeiten, die sie seit ihrer Flucht Tag und Nacht verfolgen.

Sayragul Sauytbay, Sie fühlen sich verpflichtet, Ihre Geschichte an die Öffentlichkeit zu tragen, allen Gefahren zuwider.

Ich wurde Zeugin, wie unschuldige Menschen in Ostturkestan in Konzentrationslagern festgehalten und gequält wurden. Es ist meine menschliche Verpflichtung, dass ich die Stimme dieser Menschen werde. Wenn ich das nicht an die Öffentlichkeit trage, werden die Minderheiten in Ostturkestan vernichtet. Ich wünsche mir von den demokratischen Ländern wie den USA oder der Schweiz, dass sie uns unterstützen.

Welche Erinnerungen aus der Zeit im Zwangslager quälen Sie am meisten?

Ich habe viele Gräuel erlebt, aber am meisten belasten mich die Misshandlungen und Vergewaltigungen der Frauen. Einmal habe ich gesehen, wie mehrere Chinesen eine junge Frau vergewaltigten. Ausserdem werden Frauen mit Medikamenten und Spritzen gegen ihren Willen sterilisiert. Diese Bilder quälen mich immer noch. Im Lager gab es auch eine sogenannte «schwarze Kammer». Dort steckten die Behörden eine Person hinein und dann hörte man die Schreie der Menschen, wie sie gefoltert wurden. Manche von ihnen wurden halbtot aus dieser Kammer herausgetragen, andere hat man nie mehr gesehen. Ich kann diese Bilder nicht vergessen. Ich kann nicht mehr ruhig schlafen. Bis heute kann ich keine Mahlzeit ruhig essen. Immer sehe ich die Augen dieser Leute vor mir. Und die sagen mir auch, dass ich ihnen eine Stimme geben muss, um sie zu retten.

Aber auch ausserhalb dieser Zwangslager herrscht Überwachung. Sie sprechen von einem «Freiluftgefängnis». Was bedeutet dies genau für die Bevölkerung in Ostturkestan?

Ein Teil der Bevölkerung von Ostturkestan wird in Konzentrationslagern oder Gefängnissen festgehalten, ein anderer Teil wurde zu Zwangsarbeit in- und ausserhalb Ostturkestans deportiert. Die verbliebenen Menschen können vor lauter Angst weder laut sprechen noch tief einatmen. Jederzeit könnten Soldaten vorbeikommen und Leute unter Vorlegung falscher Beweise in die Lager abführen. Niemand ist sicher in Ostturkestan. Die Menschen sind froh, wenn sie morgens noch atmen.

Andili Memetkerim, Präsident des Uigurischen Vereins Schweiz, und Menschenrechtsaktivistinnen Sayragul Sauytbay und Mihriban Memet auf dem Bundesplatz in Bern. (v. l. n. r.)

Was braucht es, um den Grausamkeiten in Ostturkestan ein Ende zu bereiten?

Wir dürfen nicht schweigen. Eine Minute Schweigen bedeutet weitere Tote in Ostturkestan. Wir müssen gegen diese Brutalität kämpfen. Meine Forderung an die westlichen Länder ist, dass sie wirksame Massnahmen ergreifen. Zum Beispiel im Hinblick auf ihre wirtschaftlichen Beziehungen mit China. Man könnte einschneidende Sanktionen verordnen gegen die chinesische Regierung. Man könnte die Bankkonten chinesischer Führungskräfte blockieren. Wir dürfen nicht abwarten, denn China begeht immer grössere Verbrechen. Ich habe die Hoffnung, dass die Gerechtigkeit irgendwann gewinnen wird.

Gibt es für Sie irgendwo einen Hoffnungsschimmer?

Einige demokratische Länder haben Unzufriedenheit mit China geäussert und teilweise Massnahmen ergriffen. Wenn wir alle zusammenstehen und das Thema auf den Tisch bringen, können wir viel erreichen. Zusammensein ist unsere Stärke. Zu schweigen ist im Angesicht all dieser Brutalität auch ein Verbrechen.

Welche Unterstützung brauchen uigurische und kasachische Gemeinschaften im Exil?

Es sind viele Einzelpersonen, die alle für die Gerechtigkeit für die Menschen in Ostturkestan kämpfen. Viele engagieren sich in Vereinen. Um ihre Wirkung zu vergrössern, sind sie auf die Unterstützung der jeweiligen Regierungen angewiesen. Sie können zum Beispiel kontaktiert werden, um als Zeuginnen und Zeugen aufzutreten. Wenn ich weiterhin eine Stimme sein kann, dann freut es mich. Ich werde nicht müde, weiterzukämpfen.

«Die Kronzeugin»:

2017 wurde die Staatsbeamtin Sayragul Sauytbay in ein chinesisches Zwangslager deportiert, um dort ihre Mitgefangenen in der chinesischen Sprache, Kultur und Politik zu unterrichten. Dabei erhielt sie Einblick in geheime Strategiepläne der Regierung. Das Buch «Die Kronzeugin» ist Sauytbays eindringlicher Insider-Bericht über den grössten Überwachungsstaat unserer Zeit und Chinas Machtpolitik.
Das Buch ist im Sommer 2020 im Europa-Verlag, Zürich erschienen. Es entstand in Zusammenarbeit mit der freien Autorin Alexandra Cavelius.

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