Schweiz

Mehr Platz für fahrende Roma

Das Projekt „Fahrende Roma in der Schweiz“ will Konflikte zwischen fahrenden ausländischen Roma, Polizei, Behörden und Bevölkerung reduzieren.

Foto: Eric Roset

Ausländische fahrende Roma brauchen in der Schweiz genügend Durchgangsplätze. Foto: Eric Roset Ausländische fahrende Roma brauchen in der Schweiz genügend Durchgangsplätze. Foto: Eric Roset

Situation: Ausländische fahrende Roma in der Schweiz

Zwischen März und Oktober bereisen zahlreiche ausländische fahrende Roma die Schweiz. Obwohl die Schweiz verpflichtet ist, genügend Halteplätze für inländische wie auch fahrende ausländische Gruppen zur Verfügung zu stellen, ist die gegenwärtige Situation unbefriedigend. Grösseren fahrenden ausländischen Roma-Gruppen stehen nur vier Halteplätze zur Verfügung – dies führt zu Konflikten.

Die Geschichte der Roma in der Schweiz ist eine Geschichte von Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung. Mit dem Ziel, die fahrende Lebensweise dieser Minderheit zu bekämpfen, wurde in der Schweiz während sechs Jahrhunderten eine repressive «Zigeunerpolitik» betrieben: Roma wurden verfolgt, vertrieben und gebrandmarkt. Von 1887 bis 1972 wurde die Schweizer Grenze für Fahrende aus dem Ausland sogar vollständig geschlossen.

Heute halten sich gemäss Schätzungen in den Sommermonaten regelmässig 500 bis 800 , in den Spitzenmonaten gar bis zu 1500 Wohnwagen in der Schweiz auf. Viele der fahrenden ausländischen Roma gehen hier einer Arbeit nach und haben einen fixen Kundenstamm in der Schweiz. Hinzu kommen Roma-Gruppen, welche die Schweiz aufgrund ihrer zentralen Lage für Familienzusammenkünfte oder religiöse Treffen bereisen. Sie kommen aus Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien und skandinavischen Ländern sowie aus Österreich und Bulgarien.

Der Mangel an Durchgangsplätzen und die Tendenz, vorhandene Durchgangsplätze ausschliesslich fahrenden Schweizer Jenischen und Sinti zur Verfügung zu stellen, führen dazu, dass ausländische Roma-Gruppen zunehmend gezwungen sind, auf den sogenannten „spontanen Halt“ auszuweichen. Damit sind kurzfristige Aufenthalte ausserhalb offizieller Durchgangsplätze gemeint, wo Wohnwagen gegen Entgelt etwa bei Landwirten, Gewerbebetrieben oder auf öffentlichen Gemeindeflächen aufgestellt werden. Die Mehrheit dieser Arrangements verläuft reibungslos. In einigen Fällen kommt es aber zu Konflikten zwischen fahrenden Roma-Gruppen, Landbesitzenden, Behörden und der Polizei. Obwohl es sich dabei um Einzelfälle handelt, werden sie von den Politikern und Medien regelmässig aufgegriffen und als „illegale Besetzungen“ medial ausgetragen. Die Roma selber kommen dabei kaum zu Wort.

Die aufgeheizte Stimmung führt dazu, dass Durchgangsplätze für fahrende Roma verunmöglicht und antiziganistische Vorurteile und Rassismus in der Bevölkerung geschürt werden. Dies betrifft auch die grosse Mehrheit der sesshaften Roma in der Schweiz, welche aus Angst vor Diskriminierung ihre Roma-Identität verstecken.

Ziele und Aktivitäten

Das Projekt „Fahrende Roma in der Schweiz – Information, Mediation und Sensibilisierung“ strebt eine klare Reduktion von Konflikten zwischen fahrenden Roma-Gruppen, Landbesitzenden, Behörden und der Polizei in der Schweiz an. Mittels zwei aus der fahrenden Sinti- und Roma-Gemeinschaft stammenden Mediatoren soll das Verständnis auf beiden Seiten erhöht und Kompromisse gefunden werden.

Bei den zuständigen Behörden und der Polizei ist wenig Wissen über die Lebensweise und Kultur der Roma-Gruppen vorhanden. Mit einem Bericht über die Situation fahrender Roma in der Schweiz und einem Sensibilisierungsmodul für Polizei und Behörden will das Projekt Fachwissen über Kultur, Lebensweise und Bedürfnisse der fahrenden ausländischen Roma-Gruppen vermitteln. Das Projekt wurde gemeinsam von GfbV und dem Verband Sinti und Roma Schweiz (VSRS) als Pilotprojekt erarbeitet und per Ende 2017 dem VSRS übergeben.

Aktivitäten:

  • Information: Erstellung eines Berichtes über die Kultur und Bedürfnisse der fahrenden ausländischen Roma in der Schweiz
  • Mediation: Einsatz eines Mediators aus der Schweizer Sinti- und Roma-Gemeinschaft bei Konflikten zwischen fahrenden ausländischen Roma, Polizei und Behörden.
  • Sensibilisierung/Vermittlung: Entwicklung und Durchführung eines Informationsmoduls über fahrende ausländische Roma für Behörden und Polizei.

Ziele:

  • Weniger Konflikte und mehr Verständnis zwischen fahrenden ausländischen Roma, Polizei und Landbesitzenden
  • Weniger negative Medienberichte und eine verbesserte Akzeptanz der fahrenden Roma in der Schweiz
  • Schaffung von mehr Durchgangsplätzen
  • Abbau von Rassismus gegen Roma in der Bevölkerung

Erkenntnissse des neuen Berichts

Im Rahmen des Projektes «Fahrende Roma in der Schweiz » hat die GfbV in Zusammenarbeit mit dem Verband Sinti und Roma Schweiz einen Bericht erarbeitet, der Aufschluss über die Lage und Bedürfnisse der fahrenden Roma gibt sowie die Perspektive der Polizei reflektiert. Darüber hinaus will der Ende Oktober 2017 veröffentlichte Bericht einen Einblick in die Geschichte, Kultur und soziale Organisation der Roma verschaffen und setzt sich mit ihrer rechtlichen Situation in der Schweiz auseinander. Schliesslich formuliert die GfbV konkrete Empfehlungen zur Verbesserung der gegenwärtigen Situation.

Rechtlicher Schutz und Platzsituation

Aus rechtlicher Perspektive haben nicht nur Schweizer, sondern auch ausländische fahrende Minderheiten Anspruch auf ein Halterecht in der Schweiz – dies unter anderem aufgrund des Diskriminierungsverbotes und des Minderheitenschutzes. Im neuen Bericht der GfbV werden daher detailliert die völker- und verfassungsrechtlichen Grundlagen beschrieben, unter deren Schutz die fahrenden Roma in der Schweiz stehen. Sind diese im Besitz einer Reisegewerbebewilligung, so ist ihnen die Erwerbstätigkeit in der Schweiz erlaubt. Die meisten Roma, welche die Schweiz durchreisen, stammen aus westeuropäischen Ländern und arbeiten jeweils mehrere Monate in der Schweiz. Gemäss Freizügigkeitsabkommen zwischen der EU und der Schweiz sollen sie bei Einreise, Ausreise und Arbeit gleichberechtigt gegenüber Schweizerinnen und Schweizern sein. Die Diskriminierung von fahrenden Roma auf Schweizer Halteplätzen zeigt jedoch auf, dass in der Realität das Gegenteil der Fall ist: In den letzten Jahren hat sich die Situation für die fahrenden Roma bezüglich Transit- und Durchgangsplätzen stark verschlechtert.

Viele Kantone haben begonnen, ihre Plätze nach «Schweizer Fahrende» und «ausländische Fahrende» aufzuteilen. Laut Standbericht 2015 des Gutachtens «Fahrende und Raumplanung» sind mehr als die Hälfte der bestehenden Durchgangsplätze für «ausländische Fahrende» nicht mehr geöffnet. Hinzu kommen einige Plätze, auf denen «ausländische Fahrende» zwar geduldet werden, jedoch nicht explizit erwünscht sind. Gemäss einem Bericht des Bundesrats von 2006 besteht für die ausländischen Fahrenden ein Bedarf an schätzungsweise zehn Transitplätzen. Derzeit gibt es jedoch schweizweit nur vier Transitplätze, welche grösseren ausländischen Gruppen zur Verfügung stehen. Im Tessin und in der Romandie wurden mehrere solcher Plätze geschlossen.

Die Sicht der fahrenden Roma

Die GfbV führte für den Bericht 29 Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern fahrender Roma-Gruppen in der Schweiz durch. Die Ergebnisse der Befragungen zeigen, dass einige Annahmen, die in Medien und Politik über fahrende Roma kursieren, mit der Realität wenig zu tun haben.

  • Die fahrenden Roma, welche die Schweiz bereisen, sind in den unterschiedlichsten Gruppengrössen unterwegs und flexibel genug, sich bei einem angemessenen Platzangebot auf verschiedene Plätze aufzuteilen.
  • Sie stammen vor allem aus West- und Nordeuropa.
  • Die fahrenden Roma reisen in erster Linie aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit in die Schweiz. Da viele einen fixen Kundenstamm haben, scheinen sie mit ihren Tätigkeitsfeldern Nischen zu besetzen und eine gewisse Nachfrage in der Bevölkerung abzudecken.
  • Insbesondere die Annahme, dass sich die fahrenden Roma nur für kurze Zeit in der Schweiz aufhalten und auf «Durchreise» sind, bildet die Realität nur beschränkt ab: Sie bleiben oft zwei bis drei Monate in der Schweiz. Die Infrastruktur auf den Halteplätze sollte daher dringend angepasst und verbessert werden.

Angesichts der Erwerbstätigkeit der fahrenden Roma ist es wichtig, dass künftig auf den Transitplätzen Orte eingeplant werden, wo handwerkliche Arbeiten im Rahmen der geltenden Schweizer Standards verrichtet werden können. Gemäss Aussagen der interviewten Personen schneidet die Schweiz bezüglich Qualität und Quantität des vorhandenen Platzangebotes im europäischen Vergleich besonders schlecht ab. Ebenso gilt sie bei den Befragten bezüglich Häufigkeit der Polizeikontrollen als Spitzenreiterin.

Die Sicht der Polizei

Um die Sicht der Polizei zu erfassen, wurden Polizeistellen in frequentierten Kantonen angefragt. Fünf Polizeibeamte aus den Kantonen Thurgau, Zürich, Aargau und Bern fanden sich bereit, ihre Erfahrungen mit der GfbV zu teilen. Die Befragungen ergaben, dass die stärkere Vermittlung von Wissen über Geschichte, Kultur und Bedürfnisse der fahrenden Roma in der Polizeiarbeit ein Bedürfnis zu sein scheint. Dadurch würden sich wohl einige Missverständnisse und Konflikte vermeiden lassen. Den Recherchen und den Interviews entnahm die GfbV, dass die Polizei im Zusammenhang mit fahrenden Roma oft Aufgaben übernimmt, welche nicht in ihr primäres Tätigkeitsfeld fallen. So werden die meisten Durchgangs- und Transitplätze direkt von der Polizei verwaltet. Beim Spontanhalt kommt es regelmässig vor, dass die nötige Infrastruktur von der Polizei bereitgestellt und kontrolliert wird.

Die Schaffung von offiziellen Halteplätzen scheint ein dringendes Anliegen der Polizei zu sein. Ihr Verhandlungsspielraum gegenüber fahrenden Roma wird durch den Platzmangel stark eingeschränkt. Der akute Platzmangel sei auch einer der Hauptkonfliktpunkte zwischen den fahrenden Roma-Gruppen und der Polizei. Eine Zunahme der Kriminalität, die im Zusammenhang mit fahrenden Roma insbesondere von der Politik suggeriert wird, lässt sich laut den befragten Polizisten nicht feststellen.

Forderungen

In der Schweiz sind Roma noch immer struktureller Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt. Davon sind auch die ausländischen durchreisenden Roma-Gruppen betroffen.

Das sind Forderungen und Empfehlungen an Politik, Behörden und Polizei:

Halteplätze

  • Es sollen mehr Plätze für alle fahrenden Gruppen mit der nötigen Infrastruktur für einen mehrmonatigen Aufenthalt eingeplant werden.
  • Der Spontanhalt soll weiterhin als Haltmöglichkeit gewährleistet bleiben. Dieser Halteform sollen keine weiteren rechtlichen Hürden entgegengestellt werden.

Partizipation

  • Fahrende Roma sollen in Planungsprozesse von Halteplätzen einbezogen werden.
  • Interkulturelle Vermittlung zwischen Fahrenden und Sesshaften soll unterstützt, ausgeweitet und institutionalisiert werden.
  • Die Halteplätze in der Schweiz sollen künftig nicht mehr von der Polizei, sondern von Privatpersonen verwaltet werden.
  • Die Geschichte und Kultur der Roma soll in den Schulunterricht integriert werden, um Vorurteile und Misstrauen gegenüber Roma in der Schweiz abzubauen.

Polizei, Politik, Behörden und Landbesitzende

  • Eine bessere Koordination zwischen den Fachstellen für Raumplanung, den kantonalen Polizeibehörden und den Landbesitzenden ist notwendig.
  • Polizeiliche Ausbildungsstätten sollen Workshops und Weiterbildung zum Thema Geschichte, Kultur und Bedürfnisse Roma anbieten.
  • Auf eine Verschärfung des Reisendengewerbegesetzes, das den Entzug oder Verweigerung der Reisendengewerbewilligung bei Störung der öffentlichen Ordnung vorsieht, soll verzichtet werden.

Kontakt

Kontakt:

Verband Sinti und Roma Schweiz (VSRS) e.V
Bahnhofstrasse 10
CH-8001 Zürich
+41 43 456 26 33
info@vsrs.ch

Kontaktperson bei der GfbV:

Angela Mattli, Kampagnenleiterin Minderheiten und Diskriminierung

Tel. +41 (0) 31 939 00 03

angela.mattli@gfbv.ch

Unterstützung

Wir bedanken uns bei jenen Institutionen, die das Projekt unterstützen.

Logos: Migros Kulturprozent, Swisslos, FRB und BAK

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