Schweiz-China

Uigurische Lagerüberlebende erinnern die Schweiz an ihre Pflichten

Unschuldig sperrten Chinas Sicherheitskräfte die Uigurinnen Gulbahar Jalilova und Gulbahar Haitiwaji in die menschenunwürdigen Zwangslager Ostturkestans (chin. Xinjiang). Seit sie frei sind, kennen beide nur ein Ziel: die Welt wachrütteln,
damit China zur Rechenschaft gezogen wird. Dazu besuchten sie im Herbst 2022 die Schweiz, eingeladen von der GfbV.
Foto: Rene Torres

Trotz hohem Risiko durch Chinas Sicherheitsapparat kontern sie öffentlich Pekings Lügen zur Situation in Ostturkestan: Gulbahar Jalilova, Asgar Can und Gulbahar Haitiwaji (v.l.n.r.) während ihrer Tour-de-force vor der Uno in Genf. Foto: Rene Torres Trotz hohem Risiko durch Chinas Sicherheitsapparat kontern sie öffentlich Pekings Lügen zur Situation in Ostturkestan: Gulbahar Jalilova, Asgar Can und Gulbahar Haitiwaji (v.l.n.r.) während ihrer Tour-de-force vor der Uno in Genf. Foto: Rene Torres

Unschuldig sperrten Chinas Sicherheitskräfte die Uigurinnen Gulbahar Jalilova und  Gulbahar Haitiwaji in die menschenunwürdigen Zwangslager Ostturkestans (chin. Xinjiang). Seit sie frei sind, kennen beide nur ein Ziel: die Welt wachrütteln, damit China zur Rechenschaft gezogen wird. Dazu besuchten sie im Herbst die Schweiz, eingeladen von  der GfbV.

Bild: Trotz hohem Risiko durch Chinas Sicherheitsapparat kontern sie öffentlich Pekings Lügen zur Situation in Ostturkestan: Gulbahar Jalilova, Asgar Can und Gulbahar Haitiwaji (v.l.n.r.) während ihrer Tour-de-force vor der Uno in Genf. (Foto: Rene Torres)

«Zum Verhör kam ich gefesselt in einen Raum ohne Kameras und wurde mit  Elektroschocks gefoltert. Sie wollten, dass ich ein Schuldbekenntnis unterschreibe, doch ich weigerte mich», sagt Gulbahar Jalilova. Ihr laufen Tränen über die Wangen, doch ihr Blick ist kämpferisch. An diesem Septemberabend verharrt das Publikum im restlos gefüllten Zürcher Kulturcafé sphères in gebannter Stille. Denn mit Jalilova erzählt hier eine von aktuell nur zwölf Zeug:innen der chinesischen Zwangslager, die trotz hohem Risiko öffentlich über ihre Haft sprechen. Die in Kasachstan aufgewachsene Uigurin wurde während 15 Monaten in Ostturkestan unter widerwärtigsten Bedingungen interniert.

Unschuldig aus dem Leben gerissen

Jalilova trägt ein Kopftuch in weichen Pastellfarben, vor sich hat sie einen Stapel Papier. Daraus zieht sie während des Abends immer wieder Fotos und Texte, die ihre Haft dokumentieren. Beispielsweise ein von den   Sicherheitskräften erstelltes und an ihre Familie versendetes Schreiben, das vermeintlich belegen soll, dass sie eine Terroristin sei. Nachdem die Unternehmerin im Mai 2017 geschäftlich von Kasachstan nach China reiste, wurde sie grundlos verhaftet. Sie sei weder in Ostturkestan noch in ihrer Heimat eine Aktivistin gewesen, geschweige denn eine Kriminelle: «Ich bin keine Terroristin. Ich weiss nichts über Terror», sagt Jalilova über ihre Verhaftung.

Schmerzhafte Aufklärarbeit

Ironischerweise hat erst Chinas menschenverachtende Behandlung aus ihr eine Aktivistin
gemacht. Am Podium ist sie nicht allein: Neben ihr sitzen Gulbahar Haitiwaji (Interview S.8), ebenfalls Ex-Lagerinsassin, sowie Asgar Can, Vorsitzender der Uigurischen Gemeinde in Europa. Er flüchtete bereits vor Jahrzehnten nach München und übersetzt für die Frauen ins Deutsche. Gemeinsam sind sie eine Woche in der Schweiz. An Podien in Zürich, Bern und Genf gehen beide mental an den Ort des Grauens zurück, um von den Lagern zu berichten. Sie wissen um die Wichtigkeit dieser Reise, die auch Treffen mit Schweizer Parlamentarier:innen und einen Side-Event am Uno-Menschenrechtsrat in Genf beinhaltet. Doch die beiden Frauen leiden unter den psychischen Folgen ihrer Haft, jeder Auftritt ist eine Belastung. Für Jalilova ist das kein Grund zu schweigen: «Bei meiner Freilassung sagten meine Mitgefangenen: ‘Vergiss uns nicht, berichte was hier passiert.› Das tue ich  jetzt. Ich habe keine Angst vor China.»

Gewalt gegen Frauen

Dass sie noch Kraft dazu hat, ist beachtlich. Erlebte sie doch im Lager nahe Ürümqi, Hauptstadt Ostturkestans, konstant Demütigung und Gewalt. Es fehlte an allem: Hygiene, Essen und Wasser. Sprachen die Häftlinge uigurisch miteinander, drohten Strafen. Wie Haitiwaji berichtet sie von stunden- bis tagelangen Verhören mit archaischen  Fixiermethoden, zu denen sie mit schwarzen Säcken über dem Kopf hingeführt wurden. Jalilova hält ein Foto in die Höhe: «In der Zelle gab es weder Dusche noch Decken, dafür aber eine offen sichtbare Toilette. Wir mussten uns täglich vor vier Polizisten entblössen.»

Sie und Haitiwaji wurden wie unzählige Mitinsassinnen Ziele geschlechterspezifischer Gewalt. Jalilova wurde mehrfach vergewaltigt. Sie musste bei Haftantritt einen Schwangerschaftstest machen. Sollte dieser positiv ausfallen, müsste sie sofort zwangsabtreiben, drohten die Wächter. «Wir bekamen Spritzen, von denen sie sagten, sie seien gegen Erkältung. Doch danach hatten die Frauen ihre Periode nicht mehr», beschreibt Haitiwaji die  Zwangssterilisierungen. In ihrem Lager bekamen nahezu alle Frauen zwischen 14 – 70 Jahren Spritzen verabreicht. Zitternd zeigt Jalilova ihr Notizbuch: Darin stehen die Namen von 67 betroffenen Frauen.

Zahnlose Uno

Seit Jahren häufen sich Berichte zu Verbrechen in Ostturkestan, über eine Million Uigur:innen sollen interniert sein. Umso grösser war das Unverständnis gegenüber Michelle Bachelet. Die nicht wiederangetretene UN-Hochkommissarin für Menschenrechte  verzögerte ihren  Ostturkestan-Bericht monatelang, wohl wegen dem Druck aus Peking.  Ende August, Minuten vor ihrem Abgang, veröffentlichte sie den Bericht dann doch.  Zurückhaltend spricht er von «möglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit» wie Folter, reproduktiven Massnahmen und Zwangsarbeit. Den Begriff Genozid vermeidet er. Für Expert:innen und Betroffene wie Haitiwaji und Jalilova ist das enttäuschend, zumal gar die US-Regierung und die Parlamente von Kanada, UK und Frankreich den Begriff verwenden.

«Der Bericht ist wichtig, aber ungenügend», betont am GfbV-Podium Asgar Can. Zwar war Jalilovas Fall der erste, bei dem die Uno wegen einer uigurischen Einzelperson China kritisierte. Sie ist trotzdem enttäuscht: «Wir haben Bachelet kontaktiert, bevor sie Ostturkestan besuchte. Doch sie antwortete nicht.» Für solche verpasste Anhörungen gab es von der uigurischen Gemeinschaft viel Kritik vor Bachelets China-Besuch im Mai. Der neue Menschenrechtskommissar Volker Türk muss nun das Ansehen seiner Position wiederherstellen. Schon länger beobachten Kommentator:innen, dass China mit finanzieller Macht, geschickter Postenbesetzung und aggressiver Bündnispolitik Abhängigkeiten schafft und die Uno zu seinen Gunsten umpflügt. So verhinderte Peking im Oktober dank  einem Schulterschluss mit anderen autoritären Staaten eine Resolution im  Menschenrechtsrat. Jetzt kann höchstens noch Türk eine Diskussion über den Bericht für die Frühjahrssession 2023 traktandieren.

Schweizer Augen öffnen

Während die Uno stockt, findet Asgar Can klare Worte: «Pflegt man die Beziehung zu China wie bisher, schafft man ein unbremsbares Ungeheuer.» Für ihn brauche es einen gemeinsamen Auftritt demokratischer Staaten wie gegen Russland. «Der Wandel durch Handel ist nicht eingetreten: Es braucht harte Sanktionen.» Derweil geht die EU in Stellung: Im September entwarf sie eine Verordnung, die Produkte aus Zwangsarbeit von Europas Märkten verbannen soll.

Während die Schweiz vorerst bei solchen Massnahmen nicht mitzieht, fordern auch Schweizer Parlamentarier:innen mehr Härte vom Bundesrat gegenüber Peking. Gerade weil die Regierung weiter notorisch auf Handelsbeziehungen schielt, ist der Besuch der  Uigurinnen ein wichtiger Weckruf. Gegenüber den Medien, bei ihren Treffen im Bundeshaus, sowie am Podium mit Mitte-Präsident Gerhard Pfister präsentierten sie gegenüber Entscheidungsträger:innen das Ausmass der Repression und erfuhren Solidarität und Betroffenheit. Doch die Diskrepanz zwischen den energischen Forderungen der Frauen und dem zögerlichen Tonfall der Schweizer Politik zeigte schmerzhaft auf, dass letztere hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt.

Gemeinsam für Gerechtigkeit

Als der Abend in Zürich endet, kommt angesichts all des Leids eine erwartbare Publikumsfrage: Was können wir tun? Jalilova erinnert an Handlungsspielräume jenseits institutioneller Politik: «Boykottiert ‘made in China’. Denkt dran, dass an diesen Produkten unser Blut klebt.» In China gebe es keine freien Medien. Sie jedoch vertraue auf den Druck der Strasse und des Internets. «Ihr alle nutzt Social Media, also klärt die Menschen auf, was passiert. Unterstützt unsere Aktionen, geht an unsere Demos.» Ihre Stimme schlägt um in Aufbruch: «Nur so sehen wir und die Welt, dass wir verstanden werden und ihr hinter uns steht.»

Text: Jochen Wolf GfbV-Praktikant Kommunikation

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