08. Juni 2023

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Brasilien: «Der Entscheid steht für die Kontinuität der Gewalt gegen indigene Gemeinschaften»

Brent Millikan

Die Verhandlungen am Obersten Bundesgericht Brasiliens um das Territorium der indigenen Gemeinschaft der Xokleng wurden erneut pausiert. Dies, nachdem ein Richter mehr Zeit für die Aktenstudie beantragt hatte. Dies ist aus Sicht der GfbV und ihren Partner:innen ein politischer Schachzug, mit dem verhindert werden soll, dass mit der Anerkennung des Territoriums ein Präzedenzfall zugunsten indigener Rechte geschaffen wird.

Gestern, 7. Juni 2023, wurde am brasilianischen Obersten Bundesgericht dem Antrag des Richters André Mendonça um mehr Zeit zur Aktenstudie stattgegeben. Damit sind die Verhandlungen über das Territorium «Ibirama La Klãnõ» der indigenen Gemeinschaft der Xokleng erneut für 90 Tage pausiert. Der Fall stellt unter dem Namen Marco Temporal ein Präzedenzfall dar. Denn in der Klage geht es um den Anspruch indigener Gemeinschaften auf Gebiete, bei denen sie nicht nachweisen können, dass sie diese bereits vor dem Inkrafttreten der brasilianischen Verfassung am 5. Oktober 1988 bewohnt haben.

Dies ist perfide: Die Xokleng, bewohnten «Ibirama La Klãnõ», bis sie im Laufe des 19. und 20. Jahrhundert durch europäische Kolonialisator:innen massenhaft getötet und vertrieben wurden. Seither sind immer grössere Teile ihres Territoriums in den Händen nicht-indigener Menschen und Unternehmen, die dort Landwirtschaft im grossen Stil betreiben. «Ibirama La Klãnõ» ist kein Einzelfall: Mehr als zwei Drittel der indigenen Gemeinschaften leben heute auf Gebieten, auf die sie vor Kolonisator:innen und in den Jahren der rechtsextremen Militärdiktatur vor 1988 geflohen sind und entsprechend erst in den Jahren nach 1988 bewohnen.

Die Grundfrage nach dem Recht indigener Gemeinschaften auf Gebiete, die sie erst nach der Flucht bewohnen, findet sich auch im Gesetzesentwurf PL 490/07 wieder. Unter der neuen Nummer PL 2903 steht dieser momentan im brasilianischen Kongress zur Debatte. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass indigenen Territorien der Schutzstatus aberkannt werden kann, sollte die indigene Gemeinschaft ihre Anwesenheit vor 1988 nicht nachweisen können und dass unter diesen Bedingungen keine neuen Territorien anerkannt werden. Die Abgeordnetenkammer hat ihm, schon zugestimmt. Der Entscheid des Senats ist jedoch noch ausstehend. Schaut man sich die rechte Mehrheit im Senat an, so ist auch in dieser Kammer ein Entscheid zugunsten des neuen Gesetzes und somit des Marco Temporal zu befürchten.


Wie wird der juristische Präzedenzfall ausfallen?

Der vom ehemaligen rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro als Richter des Obersten Bundesgericht eingesetzte Richter André Mendonça spielt nun auf Zeit. Denn das Oberste Bundesgericht hat eine moderatere politische Stossrichtung als der Senat – und könnte so zugunsten der indigenen Gemeinschaften entscheiden. So würde ein Referenzrahmen geschaffen, auf den sich indigene Gemeinschaften in Zukunft beziehen können, um ihr Recht auf ihr Territorium durchzusetzen. Mit der Pausierung der Verhandlungen erreicht André Mendonça, dass das Oberste Bundesgericht erst nach einer weiteren Frist von 90 Tagen – und somit mit grosser Wahrscheinlichkeit erst nach dem Entscheid des Senats über den Marco Temporal über den Fall «Ibirama La Klãnõ» entscheiden wird. Die Chancen, dass das Oberste Gericht dann im Sinne des Senats entscheiden wird, sind gross – und damit, dass ein indigenenfeindlicher Präzedenzfall geschaffen wird.

Ein Entscheid des Obersten Bundesgerichtes im Sinne des Marco Temporal ist brandgefährlich. Denn es bedeutet, dass das Recht indigener Gemeinschaften auf ihre Territorien verhandelbar wird. Doch, so sagt Dinamam Tuxá, Exekutivkoordinator von Apib (Articulation of Indigenous Peoples of Brazil), «wir können nicht über unsere Rechte verhandeln und wir können nicht länger warten! Den Antrag von Bolsonaros Richter André Mendonça, mehr Zeit zur Aktenstudie zu erhalten, steht für die Kontinuität der Gewalt gegen indigene Gemeinschaften».

 

Foto: Brent Millikan/International Rivers vis Flickr

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