Bráz Antônio Marques de Castro ist das traditionelle Oberhaupt von 19 Tupinambá-Dörfern, die sich zwischen den Städten Santarém und Averio im Tapajós-Nationalpark des brasilianischen Bundesstaates Pará verteilen. Der 61-jährige ist besorgt um die Zukunft seiner Familie und seiner Gemeinschaft: Um die Zukunft der Gemeinschaft und des Regenwaldes zu sichern, muss noch viel Arbeit geleistet werden.
Seit einigen Jahren verschreibt sich die Gemeinschaft der Tupinambá der Selbstdemarkierung, um ihr Land und die Zukunft ihrer Kinder zu schützen. Wenn Antônio, wie ihn seine Verwandten im Dorf São Francisco nennen, über dieses Projekt spricht, so wird bald klar, wie wichtig ihm diese Arbeit ist. Bei der Demarkierung, also der Kennzeichnung des eigenen Lebensraums, geht es um den Schutz des Regenwaldes, aber auch um die Rechte der Indigenen.
Bráz selbst ist Vater von 13 Kindern, sechs davon sind adoptiert. Die Familie bewohnt ein traditionell gebautes Haus am Fluss mit einem grossen Dach, das die Familie vor den heftigen Regenfällen des Amazonas-Regenwaldes schützt.Wände hingegen hat sein Haus nicht.
Die Situation ist bedrückender denn je. Fast 20 Jahre lang lebten die Tupinambá in Frieden in ihrem Gebiet. Jetzt aber sind gleich mehrere wirtschaftliche Projekte geplant. Holzfäller, Sojabauern und Goldwäscher dringen immer tiefer in die Region ein und zerstören dabei den Lebensraum der indigenen Gemeinschaften. Und das, obwohl das Gebiet der Tupinambá Teil eines Nutzreservats zum Erhalt der Biodiversität ist. Deshalb möchte die Gemeinschaft vor allem eins: Ihr Gebiet so schnell wie möglich als indigenes Territorium kennzeichnen und anschliessend von den Behörden als solches anerkennen lassen. «Ich habe trotz allem die Hoffnung nicht verloren, dass wir unser Zuhause und die traditionelle Lebensweise der Tupinambá sichern können», sagt Bráz.
Die Demarkierung: ein langer Prozess
Die Selbstdemarkierung ist eine aufwendige Arbeit. Die Tupinambá müssen mit Landkarten und GPS arbeiten, um sich zu orientieren und die Grenzen ihres Lebensraums zu bestimmen. Hinzu kommt der enorme Kraftaufwand, um den dichten Regenwald zu durchdringen. Wochenlang sind die Tupinambá unterwegs, um Bäume zu kennzeichnen und Schilder aufzustellen.
«Hier schneiden, da schneiden. Die restlichen Äste aus dem Weg räumen, damit man vorbeikommt – wir brauchen eine Kettensäge. Denn im Urwald fallen viele Äste. Wir brauchen Gummistiefel, um uns vor giftigen Tieren zu schützen. Denn wenn wir uns durch den Dschungel schlagen, müssen wir auf uns aufpassen. Doch wir haben kaum Mittel. Denn Macheten, Planen, Stiefel sind für uns teuer … » Cacique Bráz über die Demarkierungsarbeit
Um ein Gebiet von den brasilianischen Behörden offiziell als indigenes Territorium demarkieren zu lassen, müssen die Indigenen nachweisen, dass sie ihr Gebiet seit einer gewissen Zeit bewohnen. Bisher hat die Indigenenschutzbehörde FUNAI diesen anspruchsvollen Prozess unterstützt und begleitet. Die Bundesstaaten, in denen die demarkierten Gebiete liegen, müssen ihre Zustimmung zur Demarkierung geben. Erst dann geht der Fall weiter zur Justizbehörde. Durch ein Dekret des Präsidenten wird die Demarkierung dann ratifiziert.
Durch die Demarkierung von indigenen Territorien wird der Amazonas geschützt.
Die Denkweise der heutigen Regierung
Die Regierung ist per Gesetz dazu verpflichtet, die Anerkennung von indigenem Land zu fördern. Die Verfassung schreibt den Indigenen den festen Besitz und die ausschliessliche Nutzung der Bodenschätze, Flüsse und Seen in ihren Gebieten zu. Nach Inkrafttreten der Verfassung hätten innerhalb von fünf Jahren alle Indigenen Territorien anerkannt werden sollen.
Bereits vor der Wahl des heutigen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro erfüllten die Regierungen diese Pflicht bei weitem nicht. Doch die derzeitige Regierung weigert sich explizit und vehement, neue indigene Territorien in Brasilien anzuerkennen. In seinem Wahlkampf hat Bolsonaro sich deutlich ausgedrückt: «Nicht einen Zentimeter mehr wird als indigenes Reservat oder als Quilombola demarkiert werden!»
In diesem Zusammenhang versuchte Bolsonaro, der Indigenenschutzbehörde FUNAI die Verantwortung für die Demarkierungen zu entziehen. Auch wenn dieser Beschluss durch die Justiz rückgängig gemacht wurde, ist die FUNAI heute zutiefst gespalten und geschwächt. So kann sie sich nur noch minimal für die Rechte der Indigenen stark machen.
2019, das erste Amtsjahr Bolsonaros, war zudem von einem traurigen Rekord bei der Abholzung im Amazonasgebiet, Waldbränden und von Gewalt gegen Indigene geprägt. Diese Entwicklung setzte sich auch 2020 auf erschreckende Weise fort: Im Schatten der Corona-Krise wurden in den ersten vier Monaten eine Fläche von insgesamt 120 000 Fussballfeldern abgeholzt. Deswegen ist es essentiell, dass die indigenen Gemeinschaften einerseits ihr Land selber regelmässig überwachen und abgrenzen, um es vor illegalen Invasoren zu schützen. Andererseits ist der Prozess bis zur offiziellen Anerkennung lang. Auch wenn unter der aktuellen Nationalregierung Territorien kaum offiziell anerkannt werden, so ist es doch wichtig, die Schritte bis dorthin vorzubereiten und durchzuführen.
Der Regenwald ist für die Gemeinschaften lebenswichtig und das Zentrum ihrer Kulturen, Sprachen und Traditionen.
Das Leben der Tupinambá
Cacique Bráz ist sich sicher: «Gerade in diesen Zeiten der Unsicherheit müssen die indigenen Gemeinschaften sich wehren! Und sie müssen das gemeinsam tun!» Im Sommer 2019 wurde er als Oberhaupt der Tupinambá-Dörfer wiedergewählt. Den Titel des «Cacique», so die indigene Bezeichnung für ihre Anführer, trägt Bráz mit Stolz und Verantwortung. Das traditionelle indigene Wissen ist ihm sehr wichtig, doch er nutzt auch modernere Technologien wie GPS und Handy, um so effektiv wie möglich gegen die Zerstörung des Amazonas vorzugehen. Verbündete finden die Tupinambá in der Gemeinschaft der Munduruku, die ebenfalls in der Tapajós-Region leben.
«Wir arbeiten jetzt alle zusammen. Es gibt nicht mehr diese Unterscheidung von dem einen hier und dem anderen dort. Die indigenen Gemeinschaften, die indigene Bewegung ist heute vereint. Sie setzt sich jetzt für uns alle ein und nicht nur für eine bestimmte Gemeinschaft», betont Cacique Bráz.
Für seine vorbildliche Arbeit erhielt Cacique Bráz von der Gemeinde Santarém ein Boot – vom Bürgermeister persönlich überreicht. Eine enorme Entlastung für die Gemeinschaft: «Damit können wir Menschen in die Städte bringen, wenn es einen medizinischen Notfall gibt», erklärt Bráz. Zudem wird die Kommunikation und Organisation zwischen den Dörfern erleichtert. «Es ist schwierig und kompliziert, sich zu organisieren, weil die Dörfer so abgelegen sind und die Distanzen dazwischen gross sind. Zum Beispiel während der Regenzeit ist der Fluss sehr hoch, und wir brauchen Boote, um ins nächste Dorf zu reisen.»
Vor allem aber für die Selbstdemarkierung können die Tupinambá das Boot nutzen, da sie so leichter das Gebiet bereisen können. Allerdings fallen für jede Fahrt hohe Kosten für Benzin und Instandhaltung an, weshalb die Tupinambá das Boot mit Bedacht nutzen.
Cacique Braz wünscht sich, dass auch seine Kinder die traditionelle Lebensweise der Indigenen ausleben können, wenn sie es wünschen.
Der Wille, die indigenen Gemeinschaften zusammenzuhalten und den Urwald in der Region des unteren Tapajós zu erhalten, reicht weit zurück. Bráz ist stolz auf seine Vorfahren, die seit der Kolonialzeit für die Identität der Indigenen und den Schutz des Regenwaldes kämpfen.
Bráz’ Bewunderung gilt auch dem Umweltaktivisten Chico Mendes. «Chico Mendes war ein Krieger,» sagt Cacique Bráz über den Mann, der sein Leben liess für den brasilianischen Amazonas. Mendes wurde ermordet für seinen Aktivismus. Auf seinen Namen geht das Institut zurück, welches heute für das Nutzreservat der Tupinambá zuständig ist und dessen Biodiversität es schützen sollte. Umso schmerzhafter dürfte es für Bráz sein, dass auch dieses Institut von Präsident Bolsonaro komplett umgekrempelt wurde. Statt die Biodiversität zu schützen, vergibt das Institut nun bereits erste Lizenzen an Sägereien. Die Holzfäller haben schon begonnen, den Wald zu zerstören, um eine neue Strasse durch das Territorium zu bauen. Ähnlich wie die Indigenenschutzbehörde FUNAI wurde das Institut seinem ursprünglichen Zweck total entfremdet.
Trotz ungewisser Zukunft geht der Kampf weiter
«Uns interessieren die wirtschaftlichen Projekte nicht», stellt Cacique Bráz klar. «Doch die Regierung will diese in die Hand nehmen und möglichst schnell voran treiben.»
Im Moment besteht keine Gewissheit, ob das Nutzreservat weiterbestehen kann. Ob der Dringlichkeit der Situation, will der Cacique höchstpersönlich die Selbstdemarkierung vorantreiben. Nicht nur der Wald, sondern auch der heilige Fluss, der Rio Tapajós, ist in Gefahr. Mit der Wasserstrasse Tapajós-Teles Pires soll die Tiefe der Flüsse angepasst werden, damit Fähren und Transportschiffe ihre Fracht auch bei niedrigem Wasserspiegel problemlos durch die Kanäle bis zum Hafen von Santarém-PA schiffen können. Bráz fürchtet die Folgen:
«[…] die Propeller der Schlepper, welche die Fähre schieben, wirbeln den Lehm auf und trüben damit das Wasser. Ich habe grosse Angst, dass dadurch die Tracajás (Schildkröten) getötet werden und die Fische erschrecken.»
Es sind schwierige Zeiten für die Indigenen in Brasilien. Sie stehen der Regierung eines Präsidenten gegenüber, der es als seinen «Traum» bezeichnet, den Amazonas wirtschaftlich ausbeuten zu können. Und jene Institutionen, welche die Indigenen und den Amazonas schützen sollten, treiben unter Bolsonaro selbst Projekte voran, die eine Gefahr für die Indigenen und ihre Rechte bedeuten. Wenn nun sogar Umweltorganisationen beginnen, den Wald auszubeuten, wird die Bedeutung der indigenen Gemeinschaften für die Bewahrung des Amazonas noch wichtiger. «Die Welt soll wissen, was die brasilianische Regierung mit den grossen Regenwäldern anstellt», sagt Cacique Bráz. «Unsere Gebiete müssen demarkiert werden, damit wir das Land bewahren und vor Eindringlingen schützen können.»
Die Gesellschaft für bedrohte Völker setzt sich für die Rechte der Indigenen im brasilianischen Amazonas und den Schutz ihrer Gebiete ein. Wir arbeiten eng mit der Gemeinschaft der Tupinambá zusammen und unterstützen deren Selbstdemarkierungsprozess mit juristischem Wissen und finanziellen Beiträgen.
(Text: Matheus Christo)