Die Nomad:innen in Tibet bewahren seit Jahrhunderten Traditionen und Wissen, welche die tibetische Identität geprägt haben. Doch sie sind in ihrer Existenz bedroht: Ihre Anzahl schwindet drastisch, was weitgehend auf von der Volksrepublik China auferlegte Restriktionen zurückzuführen ist. Sechs Nomad:innen, die in der Schweiz im Exil leben*, teilen erstmals ihre Geschichte. Sie zeigen, warum sich der einst florierende tibetische Nomadismus heute an einem kritischen Punkt befindet. Ein Reise-und Recherchebericht der Tibet-Expertin Fanny Iona Morel.
* Alle Zeug:innen bleiben auf ihren Wunsch anonym.
«Ich wohnte hoch in den Bergen. Ich hatte Yaks und Yak-Kühe; ich war ein glücklicher Nomade. In meiner Familie sind wir seit Generationen Nomad:innen. Wir hatten gute Lebensbedingungen mit den Gütern, die wir produzierten. Aber jetzt haben wir keine Freiheit mehr und mir ist nicht mehr erlaubt, in Tibet als Nomade zu leben. Ich musste meine Tiere verkaufen. Das war sehr traurig.»
Gemäss den chinesischen Behörden bezweckt die Einschränkung der nomadischen Lebensweise eine Verbesserung der Lebensbedingungen für die Nomad:innen, insbesondere einfacheren Zugang zu Bildung und Gesundheit. Die Nomad:innen, die wir trafen, zeigten uns aber eine andere Sicht, die sich von den offiziellen Rechtfertigungen deutlich unterscheidet: Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) scheine ihre Sesshaftigkeit erzwingen zu wollen, um sie unter Kontrolle zu haben und ihre Kultur zu schwächen – so wie sie dies mit der gesamten tibetischen Bevölkerung tut. Die Zeug:innen erzählen, dass sie unter ständiger Überwachung durch die chinesischen Behörden standen. Dazu gehören auch Kampagnen zur patriotischen Umerziehung und mit dem Ziel, den Dalai Lama und die tibetische Exilregierung zu diskreditieren. Ein Zeuge erinnert sich, dass Vertreter:innen der chinesischen Behörden sogar zwei bis drei Mal pro Monat in entlegene Gegenden reisten: Dort verlangten sie von den Nomad:innen, chinesische Fahnen über ihren Zelten zu hissen und im Zeltinneren Fotos der chinesischen Machthaber aufzuhängen. Zudem suchten sie nach Fotos des Dalai Lama, deren Besitz illegal ist.
Die nomadische Bevölkerung soll verarmen
Gemäss den Zeugenaussagen übt die KPCh Kontrolle über die Nomad:innen aus, indem sie für ihre Verarmung sorgt und sie dadurch zwingt, ihre traditionelle Lebensweise aufzugeben. Dies geschieht durch eingeschränkten Zugang zu Land, wachsende Steuern und prekäre Lebensbedingungen. Die chinesischen Behörden begrenzen den Viehbesitz der Nomad:innen, manchmal werden ihnen sogar alle ihre Tiere genommen. Die Viehsteuer wird regelmässig neu festgelegt und kann ohne Vorankündigung erhöht werden. Diese Massnahmen bewirken, dass die junge Generation entmutigt wird, am Nomadismus festzuhalten. Während der Corona-Pandemie erschwerten oder verunmöglichten zusätzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit den Transport von Nahrung und Gütern, etwa für den Verkauf auf den Märkten in Städten und Dörfern.
«Wir [Nomad:innen] mussten uns versammeln, um an einer Konferenz [patriotische Umerziehung] teilzunehmen. Die Chinesen redeten von der chinesischen Führung und boten uns Geld an, wenn wir in die Städte zögen. Der Betrag war je nach Familie und Anzahl Familienmitglieder unterschiedlich. Sie sagten, wir würden ein leichteres Leben haben und mehr Geld. Einige junge Nomad:innen und Familien glaubten ihnen und verkauften ihre Tiere. Gewisse Familien erhalten Geld, um in die Stadt zu ziehen, aber es ist nicht genug und schnell aufgebraucht. Dann stehen sie ohne finanzielle Ressourcen da.»
Die ehemaligen Nomad:innen berichten, dass ihnen ihre Lebensweise nach und nach abhandenkam. Einige wurden mit Versprechungen von besseren Chancen und Einkommen in die Städte gelockt, aber sie sagen, sie seien getäuscht worden. Sie erklären, dass die Realität in den Städten ganz anders war, als ihnen versprochen worden war, denn aufgrund der Sprachbarriere fanden sie keine Arbeit. Jene Nomad:innen, denen es gelingt, in der Stadt Arbeit zu finden, verdienen oft zu niedrige Löhne, um die Grundbedürfnisse abzudecken – bei gleichzeitig höheren Lebenskosten. So prallt die Hoffnung der Nomad:innen auf ein besseres Leben in der Stadt auf die schwierige Realität mit eingeschränkter Arbeitsmarktfähigkeit und wachsenden finanziellen Herausforderungen.
Keine freie Entscheidung
Im Zuge dieser Politik wurden Dörfer aus Betonhäusern entlang von Hauptstrassen errichtet. Die Gebäude, die ich 2019 sah, waren sorgfältig aneinandergereiht, der Strasse zugewandt und teilweise mit der chinesischen Fahne bemalt oder geschmückt. Die Ästhetik erweckte den Eindruck von leb- und seelenlosen Modelldörfern. Meine Reiseleitenden erklärten mir, die Häuser seien für die Nomad:innen bestimmt, die sich in «gemütlichen Dörfern mit moderner Einrichtung» niederlassen wollten.
«Die Chinesen sagen uns, wir sollten uns in unseren neuen Häusern glücklich zeigen, wenn Tourist:innen oder Verantwortliche kommen. Aber in unseren Herzen sind wir unglücklich. Wir haben unsere Tiere und unsere Freiheit verloren. Die Propaganda behauptet, wir Nomad:innen hätten Glück, schöne Häuser zu haben, aber in unseren Herzen sind wir traurig. Es ist wie ein Gefängnis. Das ist kein nomadisches Leben.»
Die befragten Nomad:innen trafen, entgegen den Behauptungen der chinesischen Behörden, den Entscheid über den Verzicht auf ihre traditionelle Lebensweise weder auf freier noch auf informierter Basis. Der radikale Wechsel ihrer Lebensweise war traumatisierend, und wegen der beschränkten finanziellen Mittel sind ihre Perspektiven in den Städten und den Dörfern aus Beton düster. Die angetroffenen Nomad:innen kommen zum Schluss, dass weder sie noch ihre Kinder nach dem Verzicht auf das nomadische Leben eine bessere Bildung erhielten. Und auch der verbesserte Zugang zur Gesundheitsversorgung in den Städten bleibt wegen der Sprachbarriere eingeschränkt.
Text: Fanny Iona Morel (Recherche) und Shede Dawa (Dolmetscher)
Dieser Text ist in der GfbV-Zeitschrift VOICE im März 2024 erschienen.
Fanny Iona Morel recherchierte in Tibet und ist Autorin des Buches «Whispers from the Land of Snows: Culture-based violence in Tibet», mit einem Vorwort von M. Nicolas Walder (Globethics, zweite Ausgabe, 2022).
Das tut die GfbV
Während die Schweiz mit dem Abschluss eines Freihandelsabkommen die Wirtschaftsbeziehungen zur Volksrepublik China immer enger knüpft, verschlechtert sich die Menschenrechtslage in Tibet kontinuierlich. Das hat Konsequenzen für die tibetische Gemeinschaft in der Schweiz: Die Volksrepublik China schreckt nicht davor zurück, Tibeter:innen auch hier unter Druck zu setzen und zum Schweigen zu bringen. Spätestens seit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommen 2014 ist für Tibeter:innen etwa die Ausübung ihres Grundrechts auf freie Meinungsäusserung nicht mehr selbstverständlich. Und in offiziellen Dokumenten können Tibeter:innen nicht mehr länger ‘Tibet’ als Herkunftsland angeben, stattdessen steht der Name der Besatzungsmacht, die ‘Volksrepublik China’. Die GfbV setzt sich gemeinsam mit ihren tibetischen Partnerorganisationen dafür ein, dass Fälle von Transnationaler Repression in der Schweiz untersucht und Betroffene besser davor geschützt werden. Ebenso fordert sie von der Schweizer Politik, dass die Menschenrechtslage in der Volksrepublik China in der Ausarbeitung von Freihandelsabkommen substantiell miteinbezogen wird.