Indigene Gemeinschaften in Russland stehen unter hohem Druck. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist die staatliche Repression ins Unermessliche gestiegen und macht es für indigene Menschenrechtsverteidiger:innen noch gefährlicher, sich für ihre Rechte und Territorien einzusetzen. Die Situation ist noch komplizierter, seit zum Beispiel der Konzern Nornickel Konsultationen mit indigenen Gemeinschaften durchführt – vor allem aber für das eigene Image.
Verhaftung, Bedrohung, erfundene Delikte: Der Umweltschützer, Menschenrechtsverteidiger und indigene Schamane Sergej Kechimov (siehe Titelbild) wurde Mitte Dezember auf dem Heimweg von der Verkehrspolizei angehalten und beschuldigt, betrunken zu sein. Diese Beschuldigungen sind falsch, stellt seine Frau klar, denn Kechimov trinkt überhaupt keinen Alkohol. Es kam zu einer Auseinandersetzung und schliesslich zu einer gewaltsamen vorübergehenden Festnahme.
Es ist nicht das erste Mal, dass Sergej Kechimov mit den russischen Behörden in den Konflikt kommt. Der russische Staat hat bereits mehrere Gerichtsverfahren gegen ihn angeordnet, basierend auf erfundenen Delikten: Im jüngsten Fall droht ihm eine mehrmonatige Gefängnisstrafe. Denn Kechimov protestiert seit Jahren gegen die zerstörerische Ölförderung in der Nähe des westsibirischen Imlor-Sees und widersetzt sich gewaltsamen Umsiedlungsversuchen, als letzter der Gemeinschaft der Chanten. Im Zusammenhang mit seinem Protest kommt es auch mit Mitarbeitenden des Konzerns Surgutneftegas immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen.
Dies ist kein Einzelfall. Denn in Russland befinden sich unter indigenen Territorien oftmals Rohstoffe, die grossen Profit versprechen. Um sich diesen zu sichern, missachten sowohl Unternehmen wie auch der Staat immer wieder die Rechte indigener Gemeinschaften und schrecken auch nicht vor Drohungen, Repression und gewaltsamen Übergriffen gegen Aktivist:innen zurück, die für diese Rechte und den Erhalt des indigenen Lebensraums einstehen.
Nornickel: scheinbares Engagement für Menschenrechte
Neuerdings scheinen Unternehmen indigene Menschen und ihre Territorien aber auch mehr und mehr zu respektieren. Das Bergbauunternehmen Nornickel ist beispielhaft für diese Entwicklung: Nornickel erlangte traurige Bekanntheit, als im Mai 2020 in Norilsk 21'000 Tonnen Dieselöl aus einem maroden Tank einer Nornickel-Tochterfirma in die Tundra und die umliegenden Flüsse flossen. Die Folgen sind nicht nur für das umliegende Ökosystem verheerend, sondern auch für die dort lebenden indigenen Gemeinschaften, die mit der Fischerei ihre Haupteinnahmequelle verloren. Der Konzern bezahlte eine rekordhohe Busse von umgerechnet 1.9 Milliarden Schweizer Franken und erbrachte Kompensationsleistungen an einzelne Gemeinden. Im September 2020 rief er ein grosses Unterstützungsprogramm für Indigene ins Leben und schuf ein Beratungsorgan von Indigenen für Nornickel. Doch das Unternehmen besetzte das Beratungsorgan mit indigenen Vertreter:innen, die ihm wohlgesonnen sind. Und auch das Unterstützungsprogramm ist auf diejenigen Indigenen beschränkt, die dem Unternehmen nicht kritisch begegnen. Wer das Unternehmen aber öffentlich kritisiert, wird zunehmend eingeschüchtert.
Doch nicht nur die fragwürdige Aufarbeitung der Katastrophe in Norilsk zeigt auf, dass sich das Bergbauunternehmen Nornickel mehr um seinen Ruf als um die Rechte indigener Gemeinschaften sorgt. So rühmt sich Nornickel im Winter 2021/2022 in mehreren Medienmitteilungen damit, einen sogenannten «FPIC-Prozess» mit der Gemeinde Tukhard in der Taimyr Region über deren Umsiedlung geführt zu haben. In einem FPIC-Prozess (Free, Prior and Informed Consent) werden indigene Gemeinschaften in Entscheidungsprozesse von Projekten in ihrem Gebiet einbezogen und können ihre Zustimmung geben, das Projekt aber auch ablehnen. Doch die Teilnehmer:innen des FPIC-Prozesses mit Nornickel hatten gar nie eine Wahl: Da sich Turkhard in der «sanitären Schutzzone» der Produktionsanlage befindet, ist ihre Umsiedlung gesetzlich verpflichtend. Und die «Gewährung des FPIC» fiel in die Woche nach Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine, also inmitten eines Klimas der Angst und Unsicherheit, in dem die freie Meinungsäusserung mit grossen Risiken verbunden ist.
Auch auf der Kola-Halbinsel führt das Unternehmen seit Juni 2022 einen solchen Konsultationsprozess im Zusammenhang seiner Pläne, ein Lithiumvorkommen im Territorium der Sámi auszubeuten. Auch hier gibt es scharfe Kritik: «Während bei einem korrekten FPIC-Prozess die lokale Bevölkerung das Recht hat, ein Projekt abzulehnen, stehen die sámischen Gemeinschaften vor vollendeten Tatsachen und die Lithiumförderung läuft schon bald an», so Andrei Danilov, Angehöriger der Sámi und GfbV-Partner.
Klima der Repression
Das Bergbauunternehmen benutzt FPIC Prozesse, um seinen Ruf zu verbessern. Doch das wichtigste Element eines FPIC Prozesses fehlt, denn den entsprechenden indigenen Gemeinschaften stand nie offen, die Projekte abzulehnen. Ob dies im heutigen Russland überhaupt möglich ist, bleibt zu bezweifeln: Seit Jahren schaffen die russischen Behörden ein Klima der Repression, in dem indigene Gemeinschaften Meinungen nicht äussern und Entscheidungen kaum informiert und frei von Angst treffen können. Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine 2022 haben die russischen Behörden die Repression nochmals verschärft. Proteste innerhalb russischen Staatsgebietes sind kaum mehr möglich, und manche indigene Menschenrechtsverteidiger:innen mussten das Land aus Sicherheitsgründen mittlerweile verlassen. Und auch die Unternehmen haben seit dem russischen Einmarsch nochmals mehr Spielraum erhalten, ihre Interessen ohne Rücksicht auf Indigenenrechte durchzusetzen: Im Kontext des Krieges haben westliche Geschäftspartner:innen jegliche Einflussmöglichkeiten verloren und der russische Staat räumt dem Profit staatlicher Konzerne und vollen Staatskassen höchste Priorität ein, um den Krieg finanzieren zu können. Mehr denn je braucht es deshalb Widerstand aus der Zivilbevölkerung.
Artikel aus der GfbV-Zeitschrift «VOICE», März 2023
Text: Reta Barfuss, Praktikantin GfbV-Kommunikation und Tabea Willi, GfbV-Programmleiterin Arktis